(Interview mit Ariane Bischoff und Martin Hückeler, Stadt Solingen)
Mit der Agenda 2030 hat sich die Staatengemeinschaft der Vereinten Nationen vor knapp sechs Jahren universelle Ziele für eine nachhaltige Entwicklung gesetzt – die 17 SDGs (Sustainable Development Goals). Aber auch in einer globalisierten Welt bleiben Kommunen sowohl Seismograph für Herausforderungen als auch erste Umsetzungsebene für Problembewältigung und -prävention. Vor diesem Hintergrund hat URBACT in Kooperation mit dem Rat der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE) ein neues Pilotnetzwerk zur lokalen Umsetzung der SDGs initiiert. In diesem Rahmen werden sich 19 europäische Städte über 22 Monate hinweg und mit Unterstützung externer Expert:innen darüber austauschen, wie die kommunale Ebene zu den SDGs beitragen kann und inwiefern die abstrakten Ziele von „höchster Ebene“ auch ganz lokal und ganz konkret eine Handlungsorientierung bieten. Für Deutschland wurde Solingen als Partnerstadt ausgewählt. Die 163.000-Einwohnerstadt, gelegen in der Metropolregion Rhein-Ruhr, wird mit URBACT ihr bereits vorhandenes lokales Ziel- und Handlungskonzept zur Umsetzung der SDGs an breite Kreise der Bevölkerung herantragen und Wege zur Innovationsbeschleunigung erproben. Wir haben zum Start des Netzwerks mit dem Europabeauftragten Martin Hückeler und seiner Kollegin, der Leiterin des Solinger Stabs für Nachhaltigkeit und Klimaschutz, Ariane Bischoff, über ihre Ziele und Erwartungen an das URBACT-Pilotnetzwerk gesprochen.
Frau Bischoff, Herr Hückeler, herzlichen Glückwunsch zur Auswahl als Partnerstadt im neuen URBACT-Pilotnetzwerk! Solingen beschäftigt sich schon einige Jahre intensiv mit Nachhaltigkeit und den SDGs. Welche Vorerfahrungen haben Sie und was können Sie noch lernen?
Bischoff: Ende der der 1990er Jahre sind wir auf die große Welle der Agenda 21-Prozesse aufgesprungen. Im Laufe der Jahre wurde das Thema „Nachhaltige Entwicklung“ zunehmend als Querschnittsthema in der Verwaltung verankert. Ab den 2000nder Jahren haben wir zusätzlich zu den Projektvorhaben dann zunehmend die konzeptionelle Ebene aufgebaut, um die Umsetzung mittel- und langfristig abzusichern. Seit Ende 2015 sind diese Aufgaben unmittelbar im Büro des Oberbürgermeisters angesiedelt, seit März 2021 wurde dies als Stab „Nachhaltigkeit und Klimaschutz“ organisatorisch und personell verstärkt. Das verdeutlicht das Anliegen und den Nachdruck des Oberbürgermeisters, das Handeln für Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu unterstützen und voranzubringen.
Die gesamtstrategische Arbeit der Stadt mündete 2018 in der Verabschiedung der Solinger Nachhaltigkeitsstrategie, welche im Rahmen eines landesweiten Modellprojektes „Global nachhaltige Kommune“ über zwei Jahre in einem breiten Dialog- und Arbeitsprozess mit vielen Mitwirkenden aus Verwaltung, Stadt- und Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik entwickelt wurde. Seit Herbst 2018 setzen wir unsere lokalen Nachhaltigkeitsziele, die aus den SDGs der Vereinten Nationenabgeleitet sind, um. Dabei haben wir in Solingen sechs Schwerpunkte: Gesellschaftliche Teilhabe, Globale Verantwortung und Eine Welt, Mobilität, Arbeit und Wirtschaft, Klima und Energie sowie Natürliche Ressourcen und Umwelt. In jedem Themenfeld wurden strategische und handlungsleitende Ziele definiert: Diese Ziele bzw. ihre Umsetzung tragen zu zahlreichen, für unsere Stadt relevanten SDGs bei.
Am Anfang haben wir erst einmal eine Bestandsaufnahme gemacht: Wo stehen wir, welche konkreten Ziele brauchen wir in Solingen? Wir stecken mitten in der Umsetzung dieser Ziele und damit auch der SDGS, das ist ein großes Maßnahmenprogramm. Wir haben viele Projekte und Aktivitäten, viele Akteur:innen in der Verwaltung, im Beirat, in der Zivilgesellschaft. Aber die Frage ist, wie wir das weiter potenzieren können. Da erhoffen wir uns viel aus der Teilnahme am URBACT-SDG-Netzwerk. In Deutschland sind wir schon gut vernetzt, jetzt möchten wir gerne auch andere Herangehensweisen kennenlernen und in den Dialog mit der bislang nicht involvierten Bevölkerung treten. Es geht darum, die Leute einzubinden, Lust auf etwas neues, Positives zu schaffen, zu überzeugen, dass das ein Gewinn ist. Das ist eine spannende Vorgehensweise, herausfordernd ist allem immer wieder die tatsächliche Umsetzung.
Was sind die Ziele von Solingen im Rahmen Netzwerkarbeit mit URBACT in den nächsten 22 Monaten?
Hückeler: Uns geht es vor allem um die Bewusstseinsbildung in den Kommunen. Wie kann man die breite Masse der Bürger:innen erreichen? Wer macht es wie bzw. wer macht es anders als wir und warum? Wie kann man das finanzieren? Wir sollten zum Beispiel Haushaltsmittel, die sich im städtischen Haushalt an verschiedenen Stellen „verstecken“, bündeln und für diese Arbeit verwenden. Mit diesen Fragen haben wir uns auch schon im europäischen Städtenetzwerk Eurotowns beschäftigt. Dort sind wir seit 2016 Mitglied, 2019 haben wir als Stadt Solingen die Leitung des neuen Task Teams „Global Goals“ übernommen. Mit URBACT wollen wir das „how to localize the SDGs“ nun noch intensiver verfolgen.
Warum ist es in Ihren Augen wichtig, dass Städte diese universellen Ziele reflektieren und in ihre lokalen Strategien und Handlungskonzepte einbinden?
Hückeler: Es geht nicht darum, mit dem erhobenen Zeigefinger daherzukommen, sondern darum, den Menschen die Vorteile der Nachhaltigkeit in ihrem direkten Lebensumfeld zu zeigen.
Bischoff: Manches muss man erst selber gemacht haben, bevor man für sich erkennt, dass eine Veränderung möglich ist. Man muss vieles erproben, wie eine Art Labor einrichten, und dann kann man im nächsten Schritt diese Veränderungen ggf. verstetigen oder auch verwerfen bzw. anders umsetzen. Ein Beispiel dafür sind die Pop-up-Radwege, die während Corona entstanden sind. Die Umsetzung der SDGs muss zum Kerngeschäft der gesamten Verwaltung werden. Wir haben ein Lenkungsteam „Nachhaltigkeit und Klima“, da sind alle Ressorts der Verwaltung vertreten. Von Integration über Schule, Planung, Stadtwerke, Jugend, Umwelt, Wirtschaftsförderung etc. Zudem sitzen in unserem Beirat „Nachhaltige Kommune Solingen“ 35 Personen aus Politik, Stadt- und Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft sowie Verwaltung. Den Vorsitz hat unser Oberbürgermeister.
Welchen Mehrwert erhoffen Sie sich vom Austausch mit europäischen Kolleg:innen?
Hückeler: Ich freue mich darauf, neue Kontakte zu knüpfen. Zudem ist der Blick von außen sehr wertvoll. Gäste stoßen einen auf Dinge in der eigenen Stadt, die man selber gar nicht bemerkt, z. B. wurde ich schon darauf angesprochen, wie schnell man doch aus der Solinger Stadtmitte im Grünen ist. Externe Besucher:innen können Defizite abbilden, aber auch für Einwohner:innen nicht mehr wahrnehmbare Vorteile erkennen und dadurch wertvolle Impulse geben.
Solingen ist eine von fünf Eurotowns-Städten, die am URBACT-SDG-Pilotnetzwerk teilnehmen. Was ist der Vorteil dieser Konstellation?
Hückeler: Ja, wir sind als Netzwerk für den SDG-Pilot angetreten, um mittelgroßen Städten Gehör zu verschaffen. Das Eurotowns-Sekretariat hat uns auf den SDG-Call aufmerksam gemacht und fünf Städte haben Interessensbekundungen eingereicht. Von Eurotowns sind neben uns die Städte Manresa (ES), Schiedam (NL), Gävle (SE) und Reggio Emilia (IT) dabei. Diese Städte waren schon im Task Team „Global Goals“ bei Eurotowns, für das Solingen den Lead übernommen hat. Aber auch die weiteren Städte im Task Team sollen mittelbar vom URBACT-Projekt profitieren bzw. wir wollen „bottom-up“ Anregungen aus dem Task Team auch in das URBACT-Projekt einbringen.
Ein wichtiges Monitoring-Instrument ist der Referenzrahmen für nachhaltige Städte (RFSC). Haben Sie damit Erfahrungen und was erwarten Sie sich von Monitoring generell?
Bischoff: Monitoring ist sehr wichtig. Für unsere selbst gesetzten Ziele in Solingen haben wir SMARTe (spezifische, messbare, ambitionierte, realistische, terminierte) Ziele formuliert und bauen seit eineinhalb Jahren ein Monitoring dazu auf. Man muss die Umsetzungserfolge der Nachhaltigkeitsziele bewerten, einschätzen und im Blick behalten können. Dafür haben wir eine qualitative und eine quantitative Beurteilung entwickelt.
Über dieses lokale Monitoring hinaus gibt es weitere Möglichkeiten, um den Umsetzungsgrad nachhaltiger Entwicklung zu messen und sich ggf. mit anderen Kommunen zu vergleichen. Als Referenz gibt es neben dem RFSC auch aktuell den Aufruf, am Berichtsrahmen nachhaltige Kommunen (BNK) teilzunehmen, der dazu dient, den Umsetzungsgrad der Bundesnachhaltigkeitsstrategie zu unterfüttern. Zusätzlich gibt es auch noch die SDG-Indikatoren im SDG-Portal. Sie wurden vom Difu, der Bertelsmann Stiftung und anderen im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie von der Engagement Global gGmbH erarbeitet. Dies sind Rahmenindikatoren, die helfen die „Großwetterlage“ einzuschätzen, die aber nicht ausreichen, um die lokalen Nachhaltigkeitsziele im Blick zu behalten. Insgesamt ist es schwierig, wenn es zu viele verschiedene Referenzsysteme gibt.
Hückeler: Wenn man eine internationale Vergleichbarkeit herstellen möchte, führt nichts an den Indikatoren vorbei. Allerdings müssten diese dann Indikatoren sein, die die Kommunen leicht und ohne großen Aufwand auswerten können. Vielleicht könnte man die Indikatoren auch auf 15 bis 20 reduzieren. Das Indikatoren-Set des RFSC ist zum Beispiel extrem umfangreich. Am besten wäre, wenn nicht jede Stadt für sich sucht, sondern wenn sich alle auf gewisse Indikatoren verständigen könnten. Gleichzeitig ist es auch wichtig, die Aussagekraft von Indikatoren im Blick zu behalten: Wenn man als Indikator „Anzahl der Museen pro Einwohner:in“ nimmt, dann sagt das zum Beispiel noch nichts über die Qualität und das Renommee dieser Museen aus.
Worauf freuen Sie sich angesichts der startenden Netzwerkarbeit am meisten?
Hückeler: Ich freue mich auf die Begleitung durch die Lead Expertin und bin sehr gespannt, welche Lösungsansätze sie hat und wie ein breiter Austausch mit Input und Strategievorschlägen aus den anderen Städten gelingen kann. Wir brauchen vor allem Impulse für die Umsetzung der SDGs und möchten da Labs zur Erprobung durchführen. Wir haben dann im Netzwerk große Themenfelder, die alle bearbeiten müssen. Eurotowns ist ja eher selbst organisiert, bei URBACT werden wir mit mehr Man- bzw. Womanpower unterstützt. Viele Städte haben momentan Haushaltsnot, da kommt uns die zusätzliche Kraft über URBACT sehr zu Gute! Ich würde mich auch sehr freuen, wenn – soweit Corona es zulässt – bald auch wieder ein physischer Austausch möglich wäre. Dadurch gewinnt man tiefere Eindrücke.
Bischoff: Ich freue mich darauf, zusammen mit Partner:innen aus Europa kleine, konkrete Meilensteine umsetzen zu können. Wir möchten spannende Ideen aus anderen Kommunen kennenlernen und diese auch ausprobieren.
Das Interview führte Heike Mages
URBACT-Pilotnetzwerk zur kommunalen Umsetzung der SDGs (Nachhaltigkeitsziele)
Laufzeit: Juni 2021 bis Dezember 2022
Lead Partner: Tallinn (Estland)
Lead Expertin: Stina Heikkilä
Teilnehmende Städte:
CdA La Rochelle (Frankreich), Braga (Portugal), Bratislava (Slowakei), Dzierżoniów (Polen), Gävle (Schweden), Glasgow (UK), Heraklion (Griechenland), Jihlava (Tschechien), Klaipėda (Litauen), Manresa (Spanien), Mouscron (Belgien), Ozalj (Kroatien), Reggio nell'Emilia (Italien), Schiedam (Niederlande), Solingen (Deutschland), Trim (Irland), Veliki Preslav (Bulgarien), Veszprém (Ungarn)