Am 30. November 2020 haben die für Stadtentwicklung zuständigen Ministerinnen und Minister der europäischen Mitgliedstaaten die Neue Leipzig-Charta verabschiedet. Das informelle Ministertreffen unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft fand aufgrund der Corona-Pandemie online statt. Bei der Veranstaltung gratulierten die Mitgliedstaaten, EU-Kommissarin Ferreira, das Europaparlament, weitere EU-Institutionen, die OECD sowie europäische Regionen und Städte zu dem gelungenen neuen europäischen Leitdokument für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Positiv hoben sie insbesondere hervor, dass die Charta den Fokus auf Gemeinwohlorientierung und handlungsfähige Kommunen richte. Dies spiegelt auch der Titel „Die transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl“ wider. Die Charta bietet einen strategischen Kompass, an dem sich Gemeinden, Städte und Metropolen aller EU-Mitgliedstaaten ausrichten können. Entscheidend wird es jetzt allerdings sein, inwieweit das Leitdokument seinen Weg in die kommunale Praxis findet. Dafür müssen alle Ebenen ihren Beitrag leisten und unterstützende Rahmenbedingungen schaffen: Die Städte selbst, die Regionen und Nationalstaaten, ebenso wie die EU und die europäischen Institutionen.
Die Neue Leipzig-Charta beruft sich auf das bekannte Nachhaltigkeitsdreieck und spricht sich für eine sozial gerechte (just), grüne (green) und wirtschaftlich produktive (productive) Stadt aus. Damit europäische Kommunen diese drei eng miteinander verknüpften Dimensionen erreichen können, gibt ihnen das Dokument fünf Schlüsselprinzipien an die Hand:
- Gemeinwohlorientierung, also ein ausreichendes Angebot von Infrastrukturen, Leistungen der Daseinsvorsorge und von bezahlbarem Wohnraum für alle Menschen;
- integriertes Vorgehen und Arbeiten zwischen einzelnen Fachbereichen und über verschiedene Ebenen hinweg;
- Teilhabe und Co-Creation im Sinne einer echten Mitgestaltung der gesamten Stadtgesellschaft bei Stadtentwicklungsvorhaben;
- Mehrebenen-Zusammenarbeit (Multi-Level-Governance) aller politischen Verwaltungsebenen sowie aller gesellschaftlichen Akteure inklusive Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft;
- sowie eine ortsbezogene Herangehensweise (place-based approach), die sich an lokalen Anforderungen orientiert und passgenaue Lösungen findet.
Sie nimmt dabei sowohl das Quartier, als auch die Gesamtstadt und die Stadtregion (functional area) als Handlungsfelder in den Blick. Bei letzterer (Stadtregion/Umland/funktionale Gebiete) weist die Neue Leipzig-Charta Schnittmengen mit ihrem räumlichen „Zwillingsdokument“, der Territorialen Agenda 2030 auf, die einen Tag später verabschiedet wurde. Während die Charta sich auf Stadtentwicklung konzentriert, liegt der Fokus der Agenda, die den Titel „Eine Zukunft für alle Orte“ trägt, auf einer ausgewogene Raumentwicklung in Europa.
Handlungsfähigkeit der Städte stärken
Zentrales Anliegen der Neuen Leipzig-Charta ist es, Städte in ganz Europa zu stärken und sie handlungsfähig zu machen, damit sie mit Klimakrise, Ressourcenknappheit, Migration, dem demografischen Wandel, wachsenden sozialen Unterschieden, der Digitalisierung, rasanten Veränderungen der Wirtschaft oder Pandemien umgehen können. Dafür brauchen sie passende rechtliche Rahmenbedingungen, eine adäquate finanzielle Ausstattung, genug qualifiziertes Personal sowie die Möglichkeit, Infrastrukturen, öffentlichen Dienstleistungen und Daseinsvorsorge im Sinne des Gemeinwohls zu steuern. Da unsere Städte immer „voller“ werden, ist dies besonders relevant in Hinblick auf die Bauland- und Bodenpolitik. Das gleiche gilt für eine aktive Gestaltung der digitalen Transformation. Denn wie Kommunen Prozesse digitalisieren und mit den immer größeren Datenströme umgehen, entscheidet über ihre Zukunftsfähigkeit.
Eine nationale Stadtentwicklungspolitik, wie sie in Deutschland mit der Leipzig Charta von 2007 etabliert wurde, trägt zum Austausch zwischen Städten sowie Akteuren auf Länder- und Bundesebene bei. Sie unterstützt die Kommunen mit Förderprogrammen und gibt Anreize, Neues auszuprobieren. Die Neue Leipzig-Charta ruft deshalb zur Fortschreibung bzw. Einführung nationaler und regionaler Stadtentwicklungspolitiken in ganz Europa auf. EU-Fördermittel und -programme sowie Finanzinstrumente sind ein wichtiger Baustein für die Stadtentwicklungspolitik in den europäischen Kommunen. Eine starke städtische Dimension in den EU-Strukturfonds sollte deshalb beibehalten werden.
Höhere Resilienz
Den Kern nachhaltiger und resilienter Städte bilden hochwertige öffentliche Räume und Freiflächen in Verbindung mit kompaktem, multifunktionalem Städtebau sowie hohen baukulturellen Qualitäten. Städte, die den Nachhaltigkeitsansatz und die fünf Prinzipien verfolgen, sind zudem widerstandsfähiger gegenüber krisenhaften Ereignissen. Damit gibt die Neue Leipzig-Charta auch eine stadtentwicklungspolitische Antwort zum Umgang mit den dramatischen Auswirkungen der Corona-Pandemie.
Umsetzung im Mehrebenen-System
Breiter Dialogprozess
URBACT begleitete den Dialogprozess zur Neuen Leipzig-Charta seit September 2018 mit verschiedenen "City Labs": Städte aus ganz Europa stellten bei den vier Veranstaltungen gute Praxisbeispiele aus europäischen Städten vor und zeigten auf, welche Trends und Entwicklungen die Kommunen besonders antreiben. Zudem wurde der Leipzig-Charta-Prozess bei zahlreichen anderen Expertenrunden und Konferenzen zur nachhaltigen Stadtentwicklung in Deutschland und Europa präsentiert und das Feedback der Teilnehmenden eingeholt.
Schon heute sind die Prinzipien der Neuen Leipzig-Charta Realität
Der Deutsche Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung (DV) war im Auftrag des Bundes maßgeblich an der Erarbeitung der Neuen Leipzig-Charta beteiligt. Der DV ist zudem die nationale URBACT-Kontaktstelle (NUP) für Deutschland und Österreich und setzt sich auch in dieser Rolle für den Austausch und Wissenstransfer europäischer Städte ein. Mit der Veranstaltungsreihe „Europe’s Cities Fit for Future“ zur europäischen Stadtentwicklungspolitik hat der DV im September 2020 den europäischen Kommunen eine Bühne gegeben, die das neue Leitdokument bereits heute umsetzen. Die Reihe wird in der ersten Jahreshälfte 2021 auf nationaler Ebene fortgesetzt.
- Neue Leipzig-Charta: Die transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl (DE)
- New Leipzig Charter: The transformative power of cities for the common good (EN)
- Umsetzungsdokument: Implementing the New Leipzig Charter through Multi-Level-Governance - Next Steps for the Urban Agenda for the EU (EN)
Copyright:
Graphik: © BMI, Dominique Breier
Fotos des Dialogprozesses (von oben nach unten: Dialogsitzung im November 2019 in Brüssel, Dialogsitzung im Oktober 2019 in Berlin, erster Entwurf der Leipzig-Charta vom Juni 2018): © DV, Heike Mages